Neige Sinno: Trauriger Tiger

Die Schriftstellerin Ulrike Schrimpf rezensiert „Trauriger Tiger“von Neige Sinno

Es ist das beste Buch über Missbrauch, das ich jemals gelesen habe, klug, hellsichtig, kritisch, mutig, suchend, voller Schmerz, offen, gravierend.

„Traurige Tiger“ ist gleichzeitig ein Buch über Macht, Sexualität, Versuchung, die Überschreitung von Grenzen, Welten, die in uns verborgen liegen, Familie, Heilung und furchtbare Abgründe.

Der Roman ist ein ungewöhnlicher Collagentext, reflektierend, manchmal auch theoretisch, auf jeden Fall keine Fiktion, sondern autobiographisch, alles andere als ein emotional aufgepeitschter Pageturner – also genauso ein Buch, bei dem jeder sagen würde, das machen wir nicht, wer liest das, wie sollen wir das Buch zuordnen, wie erklären wir das den Buchhändler innen, das können wir nicht vermarkten.

So hatte Neige Sinno auch bereits Absagen von 15 verschiedenen französischen Verlagen für das Manuskript bekommen, und die Lage schien aussichtslos, bis der Text zum Glück doch noch in die Hände von Frédéric Boyer, dem Verleger von P.O.L., fiel, der entschlossen genug war, das Buch wider alle vermeintlichen Erfolgsaussichten zu publizieren.

Seitdem hat „Traurige Tiger“ – zu Recht – eine beispiellose Erfolgsgeschichte zurückgelegt: Es verkaufte sich über 300.000 mal und wurde mit französischen und internationalen Literaturpreisen überhäuft.

Es macht mich glücklich, dass es solche – scheinbar – widersinnigen Geschichten immer noch gibt.

„Manchmal begegne ich Leute, die in diesem Land der Finsternis gewesen sind oder sich gerade hinbegeben.

Ich erkenne sie wieder, es ist etwas in ihren Augen. Ich glaube, dass sie das auch in mir sehen. Es ist ein stummes Wiedererkennen, über das man nicht sprechen kann. Man wüsste nicht, was sagen. Und es ist auch gar nicht nötig. Was würde man sagen, wenn man etwas sagen könnte?“

„Zum Schluss noch der berühmte Satz von Artaud, in dem es heißt, dass keiner je etwas geschrieben oder gemalt, geformt, modelliert, gebaut oder erfunden habe, es sei denn, um der Hölle zu entkommen. Er ist vielleicht ein skandalöses Missverständnis: In Wahrheit geschieht das Gegenteil, das heißt derjenige, der schreibt, zeichnet usw. ist de facto der Hölle bereits entkommen, nur deshalb kann er schreiben.

Denn wenn man in der Hölle ist, schreibt man nicht, erzählt man nichts, erfindet man auch nichts. Dann ist man einfach viel zu sehr damit beschäftigt, in der Hölle zu sein.“

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